EU-Wirtschaftspolitik zeitgemäß denken: Dienstleistungen und Industrie gemeinsam stärken
Der Dienstleistungssektor als größte Gruppe von Beschäftigten in der EU muss endlich gleichberechtigt in politische Strategien einbezogen werden.
Umfassende Strategie statt Einzelmaßnahmen
Die neue EU-Kommission steht vor großen Herausforderungen: Während die Industrieproduktion in Europa sinkt, fehlt eine kohärente Strategie für die Zukunft. Es braucht eine verschränkte Wirtschaftsstrategie. Dabei muss der Dienstleistungssektor als größter Arbeitgeber der EU endlich gleichberechtigt einbezogen werden.
57 % aller Beschäftigten und 60 % der EU-Wertschöpfung
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Über 100 Millionen Menschen in der EU arbeiten im Dienstleistungssektor – das sind 57 Prozent aller Beschäftigten. Von Handel über Logistik bis zu IT und Finanzwesen erwirtschaften diese Branchen mehr als 60 Prozent der europäischen Wertschöpfung. Die Corona-Pandemie hat zudem eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig qualifizierte Beschäftigte in diesen Bereichen für das Funktionieren unserer Gesellschaft sind.
Gute Arbeit in den Mittelpunkt
Aus Untersuchungen ist bekannt, dass die Produktivität im Dienstleistungssektor hochgradig von der Qualität der dort geleisteten Arbeit abhängt. Arbeitnehmer:innen, die unter Druck stehen, von zu geringen Löhnen leben müssen und immer längere Arbeitszeiten haben, werden ihre Aufgaben gehetzter, vielleicht sogar schneller, aber jedenfalls schlechter erledigen.
Auch der viel zitierte Fachkräftemangel steht damit in Zusammenhang. Studien zeigen, dass vor allem in den Branchen Arbeitskräfte fehlen, in denen die Arbeitsbedingungen schlecht bzw. die Löhne verhältnismäßig gering sind. Die Antwort kann also nicht auf das Suchen arbeitswilliger Menschen aus Drittstaaten beschränkt sein. Um Personal zu finden, müssen Unternehmen ihre Arbeitsbedingungen verbessern und in Weiterbildung investieren.
Wenn sich die Arbeitsbedingungen in den Dienstleistungsbranchen verschlechtern, wird die breite Mittelschicht in Europa ausgehöhlt. Eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Löhne im Dienstleistungssektor wirkt wie ein Dominoeffekt auf die gesamte Wirtschaft: Von sinkender Kaufkraft über reduzierte Steuereinnahmen bis hin zu erhöhtem Druck auf die Löhne in anderen Branchen sind alle Bereiche der Gesellschaft betroffen.
Schluss mit dem Abwälzen auf Beschäftigte
Die derzeitige EU-Politik mit ihrem Fokus auf Kostensenkung führt in die falsche Richtung. Auch die Rufe nach einer Senkung der Lohnnebenkosten sind ein schlecht verkleideter Angriff auf den Sozialstaat.
„Ein Abwälzen der schlechten Wirtschaftslage, die vor allem von hohen Energiepreisen aufgrund des russischen Angriffskriegs sowie der Welthandelslage verschuldet ist, auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wird es mit uns nicht geben“, so Karl Dürtscher, Bundesgeschäftsführer der Gewerkschaft GPA und Reinhold Binder, Bundesvorsitzender der Produktionsgewerkschaft (PRO-GE).
Konkrete Maßnahmen notwendig
Eine zukunftsfähige EU-Industriepolitik muss daher beide Sektoren - Industrie und Dienstleistungen - im Blick haben. Zentrale Forderungen sind:
- Stärkung von Kollektivverträgen in allen Branchen
- Offensive bei Aus- und Weiterbildung
- Soziale Kriterien bei der öffentlichen Auftragsvergabe
- Förderung von Technologie, die Beschäftigte unterstützt
Sozialpartnerschaftliche Erfolge nicht vergessen
Der europäische Sozialdialog bietet die Möglichkeit, Vereinbarungen der europäischen Sozialpartner:innen Gesetz werden zu lassen: Verbände von Arbeitgeber:innen und europäische Gewerkschaften können gemeinsam bei der EU-Kommission beantragen, dass eine getroffene Vereinbarung rechtsverbindlich wird. Es liegt anschließend im Ermessen der EU-Kommission, diese Vereinbarung zum Beschluss an den Rat der EU weiterzuleiten.
Dass so bereits mit Erfolg zusammengearbeitet wurde, liegt auf der Hand: Die EU-Richtlinien über Elternurlaub, Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge beruhen auf diesem Verfahren. In der jüngeren Vergangenheit sind solche Verhandlungen aber häufig von Seiten der Arbeitgeber:innen-Verbände abgebrochen worden, etwa beim Recht auf Nichterreichbarkeit.
Gemeinsam für starken Sozialdialog
Die EU braucht eine Industriepolitik, die den Namen verdient. Statt eines Unterbietungswettbewerbs bei Löhnen und Arbeitsbedingungen muss die Qualität der Arbeit in den Mittelpunkt rücken. Nur so können eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und sozialer Fortschritt in Europa erreicht werden. Die europäischen Gewerkschaften stehen für eine lösungsorientierte Zusammenarbeit in der europäischen Sozialpartnerschaft bereit.