EU-Mindestlohnrichtlinie: Rechtliche Anfechtung bedroht soziales Europa
Die EU-Mindestlohnrichtlinie, eines der wichtigsten sozialpolitischen Projekte der letzten Jahre, steht vor einer ernsten Herausforderung. Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) empfiehlt in einem Gutachten anlässlich der Anfechtung durch Dänemark und Schweden die vollständige Aufhebung der Richtlinie. Das wäre ein schwerer Rückschlag für Millionen Arbeitnehmer:innen in Europa.
Demokratisch legitimierte Richtlinie unter Beschuss durch Minderheit
Die Richtlinie wurde 2022 mit überwältigender Mehrheit im EU-Ministerrat beschlossen. Von 27 Mitgliedstaaten stimmten 24 dafür, nur Dänemark und Schweden waren dagegen, Ungarn enthielt sich. Dennoch reichten Dänemark und Schweden Anfang 2023 Klage beim EuGH ein. Sie argumentieren, die EU habe keine Kompetenz zur Regelung von Löhnen.
Übrigens: Dänemark und Schweden vertreten gemeinsam 3,6 % der europäischen Bevölkerung und erfüllen die Ziele der Mindestlohnrichtlinie hinsichtlich KV-Abdeckung mit 88 % (Schweden) und 82 % (Dänemark) schon jetzt! Das heißt, sie müssen überhaupt keine Maßnahmen setzen, um die Richtlinie umzusetzen. Dennoch haben die beiden Regierungen sich entschieden, diesen Meilenstein auf dem Weg zu einer Sozialunion zu bekämpfen.
Auffrischung: Darum geht’s bei der Mindestlohnrichtlinie
Die Mindestlohnrichtlinie greift nicht in die direkte Lohnpolitik ein und strebt keine europaweite Harmonisierung von Löhnen an. Sie hat zwei Ziele: angemessene Mindestlöhne sicherstellen und Kollektivvertragsverhandlungen zu fördern. Staaten, die gesetzliche Mindestlöhne haben (Österreich gehört nicht dazu) müssen Systeme entwickeln, wie diese erhöht werden und ein angemessenes Niveau erreichen, damit Arbeitnehmer:innen ein würdiges Leben führen können. Länder, deren KV-Abdeckung 80 Prozent unterschreitet, müssen Aktionspläne zur Steigerung der Kollektivvertragsbindung erstellen.
Mindestlohn-Richtlinie ist keine Kompetenzüberschreitung
Die rechtliche Argumentation des Generalanwalts greift zu kurz. Zwar ist die direkte Lohnfestsetzung durch die EU ausgeschlossen, aber der EuGH hat in früheren Urteilen bereits klargestellt: Nicht jede Regelung mit Bezug zu Löhnen fällt tatsächlich unter dieses Verbot.
Die Mindestlohnrichtlinie legt weder konkrete Löhne fest noch bestimmt sie spezifische Verfahren zur Lohnfindung. Sie schafft lediglich einen Rahmen für angemessene Mindestlöhne und die Förderung von Kollektivverhandlungen – die konkrete Umsetzung bleibt in nationaler Hand.
Dies zeigt sich auch in der Praxis: Die Richtwerte der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung reichen von 46 Prozent des Durchschnittslohns in Lettland bis zu 60 Prozent in der Slowakei. Selbst die klagenden Länder Dänemark und Schweden räumen ein, dass die Richtlinie ihre nationalen Lohnfindungssysteme nicht direkt beeinflusst.
Nachteile für alle Arbeitnehmer:innen in ganz Europa
Eine Aufhebung der Richtlinie hätte weitreichende negative Folgen. In Ländern mit niedrigen Löhnen und schwacher Kollektivvertragsabdeckung würde man dringend benötigte Verbesserungen verhindern. Aber auch Beschäftigte in Ländern mit hoher Kollektivvertragsabdeckung und besseren Löhnen wären betroffen: Ohne EU-weite Mindeststandards steigt der Druck durch Lohndumping.
Gewerkschaften mobilisieren auf allen Ebenen
Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und die europäischen Branchengewerkschaften wie UNI Europa haben sofort reagiert. In einer gemeinsamen Kampagne nutzen sie alle verfügbaren Kanäle, um die Richtlinie zu verteidigen:
- Politische Intervention auf höchster EU-Ebene
- Rechtliche Gegenargumente werden ausgearbeitet
- Nationale Gewerkschaften sprechen mit ihren Regierungen
- Intensive Medienarbeit zur Bedeutung der Richtlinie
Nicht aller Tage Abend: Richtlinie ist weiterhin in Kraft
Der EuGH muss dem Gutachten des Generalanwalts nicht folgen. In etwa 30% der Fälle entscheidet das Gericht anders. Die Richtlinie bleibt bis zur endgültigen Entscheidung in Kraft und muss von den Mitgliedstaaten weiterhin umgesetzt werden.